Zehn Jahre Gilgal Primary School, Uganda
​
Mit glänzenden Augen betrachten wir die grossen und bequemen Sessel der Businessklasse beim Einsteigen. Wir werden aber bestimmt und freundlich von den Flight Attendants an den grossen Sesseln vorbeigelotst und zur Holzklasse nach hinten durchgereicht. Wir drücken uns einmal mehr in die engen Sitzreihen und die Knochen werden wir in Entebbe wieder neu bündeln und strecken.
​
Das tut unserer Stimmung aber keinen Abbruch, denn auf uns warten typisch afrikanische Feiern zum 10jährigen Jubiläum unserer Waisen- und Halbwaisenschule, Gilgal Primary School in Namaliri, Uganda. 560 Schülerinnen und Schüler besuchen die Klassen Primary 1 bis Primary 7. Hunderte haben die Schule verlassen und ihren Weg über weitere Ausbildungen in die Arbeitswelt gefunden. Wir fliegen auf knapp 12000 m Höhe dahin und bewundern Mutter Erde. Wir überfliegen Reiche und Arme, Weisse, Braune und Schwarze, glückliche und trauernde Menschen. Das Schulwissen über Menschen, Kulturen, Religionen, Vegetationszonen meldet sich zurück. Besonders die endlose Stein- und Sandwüste der Sahara beeindruckt mich, gefolgt vom sanften Übergang zur Steppe, dann Savanne und schliesslich bis zum Regenwald.
​
Zwischenlandung in Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Glücklicherweise ist nichts mehr von den schrecklichen Völkermorden zwischen den Hutus und den Tutsis spürbar. Laut "The Economist" verzeichnet Ruanda das höchste wirtschaftliche Wachstum in Afrika. Wir treffen einen ehemaligen ruandischen Wirtschafts- und Städteplaner. Heute wohnt und arbeitet er in Kampala. Seine Aussage gibt mir zu denken: Die Wirtschafts-Wachstumszahlen befinden sich im Steigflug in Afrika und trotzdem wird das allgemeine Volk noch ärmer. Schwierig zu verstehen? Die kleinen Leute werden wie Arbeitsameisen eingesetzt, um den Profit für europäische, chinesische, amerikanische und indische Rohstoffriesen und wenige ausgewählte regierungsnahe Einheimische ins Trockene zu bringen. „Habgier ist der Ursprung allen Übels“, so heisst es wiederholt in der Bibel.
​
Im Gebiet der Great Lakes (Lake Albert, Lake George und Lake Edward) wird in Uganda die Ölförderung anlaufen. Fein würde man denken. Verständlicherweise müssen die hohen Erschliessungskosten beglichen werden, doch dann kommen die grossen Ölfirmen und die regierende Familie Ugandas voll zum Zuge. Vielleicht werden einige Brosamen für das Volk unter den Tisch fallen. Wird Afrika arm regiert? Die Geber müssen von Entwicklungsarbeit Transparenz verlangen. Die Auflagen müssen überprüfbar und die Fortschritte messbar sein. Regierungsnahe Organisationen unterstützen ist oft unproduktiv, weil zu viele Funktionäre klebrige Finger haben.
​
Wir bilden junge Menschen von der Primarschule bis zur Berufslehre, ausnahmsweise wenige Schüler für das Universitätsstudium, aus. Wissen ist Macht - und es gibt immer mehr Menschen, die Veränderungen einfordern. Wir hoffen auf eine friedliche Entwicklung und keine heftigen gesellschaftlichen Eruptionen. C'est la démocratie, meint unser ruandischer Begleiter trocken.
​
Solange die gesellschaftspolitischen Verhältnisse es erlauben, laufen auch die gebildeten Ugander und Ruandi nicht davon. Europa oder Amerika ist kein Ziel. Die familiären und freundschaftlichen Kontakte sind zu wichtig und können durch materielle Anreize im Ausland nicht aufgewogen werden.
​
Wir, eine Reisegruppe von sechs Personen, teilen uns in die anfallenden Arbeiten auf. Für die Schweiz zwar kein Thema, doch leiden beinahe alle Entwicklungsländer unter dem Abfallproblem. Zuerst muss das Bewusstsein wachsen, dass rosarote und blaue Plastiksäcke weder eine Verzierung noch Blumen in der Landschaft sind. Pet-Flaschen könnten zu Tausenden eingesammelt werden. In unserer Schule haben Maureen, Irene und Priska ganze Arbeit geleistet. Von einem weitsichtigen Ugander unterstützt, konnten unsere Lehrer für eine radikale Abfallbewirtschaftung gewonnen werden. In der Anlage stehen nun 22 Grossbehälter für "organic" oder "nonorganic". Die Pet-Flaschen werden aussortiert und an eine Reziklieranlage verkauft: waste is money - Abfall ist Geld. Aus den Plastikflaschen werden u.a. grosse Wasserkanister hergestellt. Man trifft sie zu Dutzenden bei den Wasserbohrlöchern in Afrika an. Organischer Abfall wird zu Dünger weiterverarbeitet, meist mit Erde vermischt und auf unsere Äcker ausgebracht. Das Bewusstsein, Abfall nutzbringend einzusetzen muss bei den meisten Afrikanern entwickelt werden. Was vor gut 20 Jahren nach den Massenmorden an Hutus und Tutsis die Marabus als Gesundheitspolizei erledigten (sie frassen die angeschwemmten Leichen im Lake Victoria und wühlten im Abfall nach Fressbarem), müssen heute die Menschen übernehmen. Für körperliche Hygiene haben wir mit WCs, sauberen Toiletten und Duschen gesorgt, jetzt sollen unsere 560 Schülerinnen und Schüler die Vorzüge einer sauberen Umgebung und den gewinnbringenden Einsatz des "Abfalls" entdecken.
​
Die Voltaikanlage ist gerade mal 12 Monate alt, zeigt aber noch ein paar Kinderkrankheiten. Matz und Massimo wissen, wie mit Strom umzugehen ist. Mit viel Akribie stossen sie ins Zentrum der Anlage vor, lesen Schemen und decken Fehler und Schwächen der installierten Anlage auf. Die Hybridanlage mit dem Staats-Stromunternehmen Umeme sollte bei den häufigen Stromunterbrüchen bei Umeme automatisch auf die gespeicherte Energie umschalten und die wichtigsten Funktionen der Schule sichern: wir können aus Sicherheitsgründen nachts nicht auf die Notlichtanlage verzichten, ein Computer am Internet stellt die Verbindung nach aussen sicher und das überlebenswichtige Funktionieren der Wasserpumpe ist garantiert. Das Internet liefert Daten über sämtliche Funktionen unserer Voltaikanlage. So fällt die Überwachung aus der Schweiz nicht schwer. Die Zusammenarbeit mit dem afrikanischen Anlagebauer gestaltet sich locker und er zeigt guten Willen und Lernfähigkeit beim Arbeiten.
10 Jahre Gilgal Primary School
​
Von zwei armseligen Baracken zu einem kleinen Dorf mit 590 Bewohnern.
Der Rundgang übers Schulgelände ist erfreulich. Die Toiletten und die Duschen sind sauber und werden drei Mal pro Tag geputzt. Die Hygiene ist wirklich die wichtigste Krankenversicherung in Afrika. Wir besuchen alle Schulzimmer während dem Unterricht. Die Kinder reagieren aufgeschlossen und suchen das Gespräch mit uns. Während einheimische Erwachsene landesüblich mit Respektfloskeln angesprochen werden, grüssen sie uns mit „Hello Peter“ oder „Hello Maureen“. Im landwirtschaftlichen Teil der Schule treffen wir auf 20 Schweine, einige Ziegen, Schafe, viele Hühner und drei Zebu-Kühe, welche die tägliche Frischmilch für das morgendliche Porridge liefern. Auf den grossen Feldern ausserhalb der Schule wachsen auf 2 Hektaren Land Kaffee zum Vermarkten, auf den restlichen 2 Hektaren ziehen wir Gemüse (Matoke, Süsskartoffeln, Kürbis, Mangold, Erdnüsse, Kassawa usw.) und Früchte für das Nahrungsangebot (Bananen, Mango, Ananas usw.) in der Schule.
​
Die Schule heute
Wir sind sehr stolz auf unsere Kinder und Lehrer. Seit drei Jahren erzielt die Gilgal Primary School regelmässig Spitzenplätze bei den landesweiten Querschnittsprüfungen. Das respektable Niveau der Schule widerspiegelt sich auch in der Weiterausbildung unserer ehemaligen Schülerinnen und Schüler. Sie sind sich an genaues und zuverlässiges Arbeiten gewöhnt. Längst hat sich der gute Ruf der Gilgal Primary stark verbreitet und es stehen wirklich Hunderte von Anmeldungen, um in die Schule aufgenommen zu werden. Mit 560 Schülerinnen und Schüler sind wir aber völlig ausgebucht und pro Jahr verlassen nur etwa 80 Kinder nach sieben Jahren Unterricht die Schule (P1 bis P7).
​
Das 10-Jahre-Jubiläumsfest in Gilgal war ein sehr fröhlicher Anlass, begleitet von Gesang, traditionellen einheimischen Tänzen und Sprechtheater. Das Niveau ist beachtlich, eine der Gruppen gewann in einem südugandischen Wettbewerb den 3. Platz. Auch wenn die Entwicklungsarbeit uns gelegentlich vor Probleme stellt, bestätigen doch die Schulkinder mit ihrem Einsatz und fröhlicher Art, dass sich die Arbeit lohnt.
​
Vocational Training - Berufsausbildungen
Wir sind am Aufbau einer neuen Arbeit. Uns ist wichtig, was mit den Kindern nach der Gilgal Primary geschieht. Beim Schulaustritt verfügen die Kinder schon über ein beachtliches Wissen. Das ist schon einmal gut, doch möchten wir vermehrt als bisher geeignete Kinder in weiterführenden Ausbildungen finanziell unterstützen. Uganda braucht qualifizierte Berufsleute, die in speziellen Vocational Schools ausgebildet werden. Diese Ausbildung ist wichtig und mit einer Meisterausbildung vergleichbar, weil diese jungen Leute wiederum andere Schulabgänger in ihrem Beruf anlernen können. Mit Ihrer Unterstützung können wir im Berufssektor wichtige Schritte unternehmen. Die jungen Leute sind finanziell überfordert und müssen sich selber durchschlagen. Es ist aber schon heute an der Stimmung ablesbar, dass diese jungen Menschen eher früher als später sich erheben werden, um die korrupten Trittbrettfahrer im Staat in die Wüste zu schicken. Die Unzufriedenheit ist gross, umso wichtiger ist es, dass sie von besonnenen Bezugspersonen beeinflusst werden. Die Ugander haben unter Idi Amin erlebt, dass reine Gewalt ins Verderben führt.
Wir schulen und lassen junge Menschen ausbilden, damit die wirtschaftliche Basis dieses Landes gestärkt wird. Ohne Bildung keine politische Entwicklung. Wirtschaftliche und politische Entwicklung wirken in armen Ländern stabilisierend. Wissen und Information ist Macht. Nur so besiegen wir die Hungerbäuche. Wir können alle einen Beitrag leisten.
​
Murchison Falls
Wir verbringen zur Erholung vier Tage im Gebiet der Murchison Falls. Auf unserer Reise in den Westen Ugandas löst sich ein aufgummierter Pneu in Fragmente auf. Das Reserverad könnte man als Slick auf einer Rennpiste einsetzen. Da der Fahrer kein Geld bei sich hat, muss ich einen Bankomaten in Masindi finden, der gnädig auf meine Kreditkarte reagiert. Nach der Auszahlung von 500000 Uganda Schillinge wird meine Karte sicherheitshalber von der Schweiz aus gesperrt, da der Verdacht auf Missbrauch aufkommt. Immerhin setzen wir unsere Reise von Schlagloch zu Schlagloch mit einem neuen Pneu fort. Welcher Schweizer hebt schon inmitten von nowhere einen grösseren Betrag ab?
​
Die Temperaturen fallen selten unter 30°C. Es ist dauernd schwül-heiss. Die Murchison Wasserfälle sind ein tolles Naturereignis. Wir sehen viele Tiere, darunter ein riesiges Krokodil, das mit geöffnetem Kiefer unterhalb der Wasserfälle auf die nächste Fischmahlzeit wartet. Einen sichtbaren und schmerzhaften Eindruck hinterlassen die Tse-Tse-Fliegen. Sie beissen durch Jeans und andere Textilien, um zu ihrer überlebenswichtigen Blutmahlzeit zu kommen. Zudem können sie Träger der Schlafkrankheit sein. Dicke Kleider bieten den einzigen Schutz vor diesen aggressiven Biestern.
​
Die beiden letzten Tage dienen der Überprüfung der Systeme und der Bestandesaufnahme der Anlagen.
Namaliri-Mukono-Entebbe
Die ersten 20 Kilometer unserer Reise zum Flughafen sind easy, kaum in Mukono angekommen, müssen wir in die Mombasa (grösster Hafen von Kenia)-Jinja-Mukono-Kampala-Kigali (Ruanda)-Road einbiegen. Von weitem ist ein riesiger Knäuel sichtbar. Das Queren der Kreuzung gleicht einem wilden Schlagabtausch um Millimeter aller Verkehrsteilnehmer. Mir stockt zuweilen der Atem. Zurückgebeugte und verbogene Aussenspiegel zeigen an, dass etwas mehr Berührungsängste durchaus angebracht wären. Die einspurige Strasse wird wo immer möglich als zweispurige Autobahn interpretiert. Die Unfälle sind zahlreich. Riesige sechsachsige Tanklastwagen versorgen Uganda und Ruanda vom Hafen Mombasa aus mit Öl. Diese langsamen Hindernisse verleiten zu waghalsigen Überholmanövern, welche nicht selten für den schwächeren Verkehrsteilnehmer im Graben enden. Wir benötigen für die 95 Kilometer Fahrt über drei Stunden. Wie sind wir dankbar, im wunderbaren Garten des Restaurant Boma in Entebbe Platz zu nehmen und uns für den Flug mit einem feinen Essen zu stärken.
​
Schon ist es Zeit zum Flughafen zu fahren. Alle warten auf Massimo. Zu unserer Belustigung sitzt er in der Toilette fest. Diese liess sich zwar von innen schliessen, doch nicht mehr öffnen. Die Zeit wird langsam knapp und der Kellner erscheint mit einer Werkzeugkiste. Schlussendlich hilft nur noch grobes Gerät und rohe Gewalt. Die Türe springt auf und Massimo sitzt geduldig lächelnd auf der Kloschüssel, auf seine Befreiung wartend. Die Reise verläuft ohne weitere Pannen. Nach 14 Stunden Reisezeit landen wir sanft in Kloten.
​
Peter Schnyder
​